Lukas Meissl | Journalist ORF Steiermark
Es war Mitte Oktober, als ich von einem längeren Amerika-Aufenthalt wieder zurück nach Österreich gekommen bin. Mein Papa nahm mich vom Flughafen mit nach Oberfeistritz.
Noch bevor ich mich dem zum Bersten gefüllten Koffer widmen wollte, habe ich mich auf unsere Couch im Wohnzimmer gesetzt und habe – kein Witz – den „Blick um Anger“ studiert. Es war Heft Nummer 499. Das wurde mir erst einige Tage später bewusst, als mich Luis Maier kontaktierte, ob ich nicht zur 500. Ausgabe einige Gedanken zu Papier bringen könnte. Aber zurück zur Anfangsgeschichte: Warum habe ich, nach mehreren Wochen Times Square, Broadway & Co, als allererstes zum „Angerer Blick“, wie er ja liebevoll genannt wird, gegriffen? Weil ich ankommen konnte, physisch UND mental. Weil er erdet. Weil er ein WIR-Gefühl vermittelt. Damit hat der „Blick um Anger“ seit vielen Jahrzehnten vielen Medien eines voraus: er ist ein partizipatives Medium. Ich selbst durfte meine ersten Artikel – vermutlich war ich 11 oder 12 Jahre alt – im „Angerer Blick“ veröffentlichen. Das macht schon etwas mit dir, wenn dein Name über oder unter einem Bericht abgedruckt wird, den DU geschrieben hast. Jede/r Leser/in kann also auch zum/zur Redakteur/in werden. WIR können UNSERE Zeitung mitgestalten, wenn wir das wollen. Ein beinahe revolutionärer Gedanke, der immer mehr den Zeitgeist widerspiegelt. Spätestens seit dem Siegeszug der „sozialen“ Medien wurde das Sender-Empfänger-Modell obsolet: Nachrichtensprecher X verliest die Meldungen zum Tag, die von einer elitären Redaktion zusammengestellt wurden (Sender) – Publikum zu Hause nimmt die Meldungen zur Kenntnis (Empfänger). Heute nehmen die Empfänger eine neue Rolle ein: sie posten, schreiben Leserbriefe, rufen in Redaktionen an, geben Vorschläge für Berichte, filmen und fotografieren mit ihren Handys und stellen Videos und Fotos den Medien zur Verfügung. Kurzum: Die Empfänger werden selbst zu Sendern. Und genau dieses Prinzip lebt der „Blick um Anger“ seit vielen Jahren – allerdings immer vor dem Hintergrund journalistischer Qualitätsstandards (Rechtschreibung, Ausgewogenheit, Qualität der Fotos, etc.). Zudem hat das gedruckte Wort nach wie vor mehr Gewicht als das gepostete und digitale. Online wird überschätzt, Print unterschätzt – das zeigen jüngste Zahlen der Washington Post: die digitalen Anzeigenerlöse sind um 30 Prozent gesunken, das Dreifache der Einbußen im Printbereich. Und während sich (zumeist privat finanzierte) Medien thematisch, inhaltlich und oft auch politisch immer mehr zuspitzen, geht der „Angerer Blick“ in die entgegengesetzte Richtung: vom neuen Löschfahrzeug über die Erstkommunion bis hin zu Aktivitäten der Senior*innen hat alles seinen Platz. (Traditionelle) Medien schaffen Identität, tragen zum öffentlichen Diskurs und zum Funktionieren einer Gesellschaft bei – im Kleinen wie im Großen. Deshalb ist die Bedeutung des „Blick um Anger“ für unsere Region nicht hoch genug einzuschätzen. Weltpolitik schön und gut, aber wir wollen wissen, was in der Nachbarschaft los ist, in den Schulen, in der Pfarre, im Kulturleben, in den Büchereien und in unseren Betrieben. Lieber Luis, lieber Edi! Die Wiener Zeitung existiert seit 1703 – ein mindestens so langes Leben wünsche ich dem „Blick um Anger“. Und ich freue mich schon auf die 500. Ausgabe und die Couch daheim im Wohnzimmer meiner Eltern in Oberfeistritz.
Bildquellen
- LukasMeißl_09_2021_200: Archiv Blick um Anger – Die Verantwortung über das Urheberrecht für die Fotos obliegt den Redakteuren